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Rattengift zum Frühstück
Foto: iStock.com/Igor Suka

Ruhe
Rattengift zum Frühstück

Warum Vergebung Detox für Körper, Seele und Geist ist

Kornelia Langer
Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin

Egal, wie nahe sich zwei Menschen stehen: Es kommt der Tag, an dem einer vom anderen enttäuscht ist. Das gehört zum Leben dazu. Obwohl die meisten Verletzungen unabsichtlich geschehen, sitzen manche Kränkungen tief und können auch nach Jahren den Alltag beeinflussen. Wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind, spricht man von einer posttraumatischen Verbitterungsstörung. Damit ist eine krankheitswertige Reaktion auf ein drastisches Lebensereignis gemeint, das die Betroffenen als äußerst ungerecht oder herabwürdigend erleben: eine nicht nachvollziehbare Kündigung, eine plötzliche Trennung, das Fremdgehen der Partnerin, obwohl (oder gerade weil) man alles für sie getan hat. Das Ereignis wird gedanklich immer wieder durchgespielt, entsprechend kommen Ärger, Missgunst, Feindseligkeit und Hass auf die andere Person jedes Mal neu zum Vorschein und werden stärker. Oft entstehen Rachefantasien, doch zum Glück haben die meisten genügend Menschenverstand, um ihre Ideen nicht in die Tat umzusetzen. Andere geraten immer mehr in eine passiv-leidende Opferrolle, nach dem Motto: «Es können ruhig alle sehen, was ich durchmache.»

Fehlbeanspruchung des Körpers
Wie auch immer Groll und Wut sich ausdrücken: Das Nervensystem bleibt dadurch in einem Alarmzustand und ist auf ‹Flucht oder Kampf› eingestellt. Auf Dauer kann das zu muskulären Verkrampfungen führen, insbesondere im Kopf- und Rückenbereich, weil der Körper in ständiger Anspannung verharrt und Stoffwechselabbauprodukte nicht mehr aus den Muskeln transportiert werden. Massagen sind dann nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Zorn ist zudem belastend für das Herz-Kreislauf-System: Die Blutgefäße ziehen sich zusammen und der Blutdruck steigt an, das Herz schlägt schneller und muss härter arbeiten. Innerhalb der ersten zwei Stunden nach einem Wutausbruch erhöht sich das Schlaganfallrisiko um mehr als das Dreifache, das Risiko für einen Herzinfarkt sogar um das Fünffache. Ärger nur zu unterdrücken zieht allerdings ähnliche Folgen nach sich: Hormonelle und entzündliche Reaktionen auf Stress könnten nämlich auch bei bestimmten Krebsarten eine Rolle spielen. Ein Stresshormonspiegel, der ständig hoch ist, kann des Weiteren zu Stoffwechselstörungen führen, die sich auf das Gewicht und die Insulinresistenz auswirken. Entzündliche Prozesse, die eigentlich nur vorübergehend sein sollten (etwa bei einer Verletzung), sind deutlich länger aktiv. Hierdurch steigt das Risiko für chronische Krankheiten wie Diabetes oder Arthritis. Darüber hinaus gibt es wissenschaftliche Belege, dass Ehepaare mit einem feindseligen Kommunikationsstil eine schwächere Immunantwort und eine langsamere Wundheilung aufweisen. Emotionale Belastung beschleunigt nach Vermutung der Forschungsgruppe auch eine Reihe von altersbedingten Krankheiten. Frauen, die sich über längere Zeit stark gestresst fühlen, weisen eine um zehn Jahre fortgeschrittene Zellalterung auf, verglichen mit gleichaltrigen Frauen, die geringen chronischen Stress empfinden. Die US-amerikanische Schriftstellerin Anne Lamott hat den Zusammenhang zwischen dem Festhalten an Groll und der eigenen Gesundheit so zusammengefasst: «Nicht zu vergeben ist so, als würde man Rattengift trinken und darauf warten, dass die Ratte stirbt.» Man schadet sich am meisten selbst, weil die andere Person in vielen Fällen gar nicht mehr an diesen Vorfall denkt oder gar nicht ahnt, wie sehr man damit noch kämpft.

Mentales Rattengift
Auf psychischer Ebene sind die Auswirkungen nicht weniger schwerwiegend: Fehlende Vergebungsbereitschaft kann Depressionen und Angsterkrankungen verstärken. Denn anhaltende negative Emotionen beeinträchtigen die Fähigkeit zur Problemlösung und führen zu geistiger Erschöpfung. Konflikte im Beruf, in der Familie und im Freundeskreis können verstärkt werden: Die Chefin schnauzt ihre Mitarbeiterin an, diese ihren Mann, der wiederum das Kind und dieses reagiert sich ab, indem es die Katze traktiert. Ein Klassiker. Vergebung ist eine Möglichkeit, diesen Kreislauf zu unterbrechen und eigene Verletzungen zu bewältigen.

Aber wie geht Vergeben konkret?
Darüber existieren viele Mythen. Groll zeigt an, das etwas in die Seele hineingeraten ist, was dort nicht hingehört. Nicht immer sind es aktuelle Ereignisse, die sich wie ein Stachel im Herzen anfühlen, sondern manchmal auch Dinge aus der Vergangenheit. Vergeben meint nicht, das Handeln des anderen gutzuheißen. Viele verwechseln das und bleiben dadurch in ihrer Opferrolle gefangen. Die Autorin Alice Miller sagt dazu aus eigener Erfahrung: «Den alternden Eltern ehrlich (und nicht durch Moral erzwungen) zu verzeihen ist nur dann nicht schwer, wenn man sich mehrmals erlaubt hat, die Not, die sie uns bereitet haben, zu fühlen, diese ernst zu nehmen und das Ausmaß der erfahrenen Grausamkeit zu erfassen.» Sie schreibt weiter, dass Böses im Verzeihensprozess nicht ‹gut› genannt werden muss: «Es geht nicht darum, die Wahrheit zu leugnen, sondern Böses als Böses erkennen zu dürfen.» 1

Groll bewusst loslassen
Vergeben heißt nicht zwangsläufig vergessen. Allerdings hat die rein kognitive Entscheidung offenbar noch keinen positiven gesundheitlichen Effekt: Entscheidend sind eine tiefgehende emotionale Verarbeitung und das bewusste Loslassen. Das ist anstrengend, denn Gefühle heilen nicht über Nacht. Wesentlich ist, sich klarzumachen, dass Vergeben und Versöhnen nicht dasselbe sind. Vergeben geht allein, Versöhnen nicht. Um vergeben zu können, braucht es nicht die andere Person und deren Reue, deren Bitte um Verzeihung oder gar deren Wiedergutmachungsbereitschaft. Diese Dinge machen das Vergeben leichter, sind aber nur notwendig, wenn es darum geht, das Vertrauensverhältnis im Rahmen einer Versöhnung wiederherzustellen. Dazu braucht es wiederum eine konkrete und messbare Verhaltensänderung der anderen Person. Wenn das nicht geschieht, dürfen sich die Wege trennen. Manchmal ist das sogar der einzige Weg, um aus einer toxischen Beziehung herauszufinden oder eine erneute Traumatisierung zu verhindern.

Distanz auf Zeit

Manchmal entstehen bei dem Versuch, Dinge zu klären, nur noch schlimmere Verletzungen – vor allem, wenn eine Person emotional (noch) nicht reif genug ist, mit Kritik konstruktiv umzugehen. Teilweise lassen sich Beziehungen kitten, indem man für einige Wochen oder Monate auf Abstand zueinander geht. Das kann auch nur eine Person von beiden für sich entscheiden und umsetzen. Keine Reaktion ist auch eine Reaktion und in manchen Fällen das einzig Heilsame für beide Seiten. Menschen, die nicht vergeben können, neigen dazu, schmerzhafte Erlebnisse mental immer wieder zu durchleben. Kognitive Verhaltenstherapie unterstützt dabei, diese Gedankenschleifen zu unterbrechen und realistischere, weniger belastende Perspektiven zu entwickeln. Das psychologische Vergebungsmodell von Dr. Robert Enright ist ein strukturierter Ansatz, der Menschen dabei hilft, Groll loszulassen. Eine der Übungen ist ein fiktiver Brief, der an die andere Person gerichtet ist und alle Anschuldigungen und Emotionen enthält, aber – ganz wichtig – nicht abgeschickt, sondern vernichtet wird. Den Brief zu verbrennen oder in kleine Schnipsel zu zerreißen ist ein Symbol dafür, alle Gedanken und Emotionen, die einem selbst schaden, bewusst loszulassen.

In den Schuhen des anderen
Später geht es auch darum, die Per-spektive zu wechseln und sich zu fragen: «Was könnte die andere Person dazu bewegt haben, so zu handeln? Was könnten ihre Herausforderungen gewesen sein?» Diese Übung ist sehr anspruchsvoll, erleichtert aber den Vergebungsprozess. Darüber hinaus kann Vergebung geübt werden, indem man diesen Weg bei alltäglichen Konflikten oder kleineren Enttäuschungen aktiv wählt. Gerade in nahen Beziehungen hilft es, sich bewusst (wieder) auf die positiven Eigenschaften der anderen Person zu fokussieren.

Geduld mit sich selbst

Menschen, die Schwierigkeiten haben, zu vergeben, gehen oft gleichzeitig zu hart mit sich selbst ins Gericht. Selbstmitgefühl – also fair zu sich zu sein – kann helfen, innere Blockaden abzubauen und offen für Vergebung zu werden. Wer sich im Klaren darüber ist, dass auch er Fehler macht und andere verletzt, ist leichter in der Lage, anderen zu vergeben als jemand, der sich selbst für unfehlbar hält und das auch von anderen erwartet. Bei Selbstvorwürfen kann die Frage helfen, ob man zum damaligen Zeitpunkt schon die Erkenntnis hatte, über die man jetzt verfügt. Zu guter Letzt: Wer bereit ist, unwahre Glaubenssätze über sich selbst, über andere und über die Welt loszulassen, hat die Hände frei für alle Geschenke, die das Leben bereithält.

 

 

 

 

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