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Atmen ist nicht gleich atmen
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Luft
Atmen ist nicht gleich atmen

Rabea Kramp
Dipl. Sängerin (MA), Dirigentin und Musikpädagogin

Ein Mensch atmet täglich rund 12.000 Liter Luft ein und wieder aus – und dies fast ohne besondere Beachtung dieses lebenswichtigen Vorgangs. Wenn wir allerdings einige tiefe Atemvorgänge am Tag bewusst und in ruhiger Atmosphäre tun, gleicht dies einem kurzen Erholungsurlaub für Körper und Geist.

Atmen – eine Selbst- verständlichkeit
Atmung ist etwas so Selbstverständliches, dass wir kaum darüber nachdenken, dass oder wie wir atmen. Erst, wenn es Probleme mit den Lungen oder anderen an der Atmung beteiligten Organen gibt, bemerken wir, wie essenziell dieser Vorgang für uns Menschen – und letztlich alle Lebewesen – ist. Aber wann beginnen wir eigentlich mit dem Atmen? Haben Sie sich schon einmal Gedanken gemacht, wann Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben geatmet haben? Tatsächlich führen Föten im Mutterleib schon so etwas wie Atembewegungen mit ihrer Lunge aus – diese sind jedoch dadurch, dass die Lungenflügel im Mutterleib noch mit einer Flüssigkeit gefüllt sind, keine echten Atemvorgänge, sie bereiten das Ungeborene aber auf die Zeit nach der Geburt vor. Den ersten richtigen Atemzug tätigt ein Mensch, sobald er geboren ist und die Lunge mit Luft gefüllt wird. Als unser Sohn geboren wurde, habe ich diesen ersten Atem, der üblicherweise mit Schreien des Säuglings verbunden ist, vermisst und unser Frühchen wurde schon wenige Sekunden, nachdem es geboren wurde, beatmet. Wie dankbar waren wir für die medizinischen Möglichkeiten, die einem so kleinen Menschen das Leben retten können. Auch wenn Menschen alt oder krank werden, kann eine Beatmung aufgrund von Sauerstoffmangel oder ähnlichem notwendig werden. Unser Atemapparat ist ein echtes Wunderwerk und wenn man nicht gerade einen Beruf hat, der einen zwingt, über das Atmen nachzudenken beziehungsweise es zu trainieren, sieht man diese faszinierende Fähigkeit, die uns Tag für Tag am Leben hält, als viel zu selbstverständlich an. Unser vegetatives Nervensystem sorgt dafür, dass der Atem gesteuert wird, ohne dass wir dies aktiv tun müssen. Pro Minute machen wir etwa 12–20 Atemzüge, wobei der obere Bereich von einer sehr flachen Atmung zeugt. Auf Dauer ist solch eine hohe Atemfrequenz ohne aus-geprägte Ein- und Ausatmung sehr ungünstig für das vegetative Ner- vensystem und somit für die Herzratenvariabilität (HRV). Unser Herz schlägt nicht immer streng im gleichen Rhythmus, sondern es gibt eine gewisse Schwankung, die sich im HRV-Wert zeigt. Ist unsere Atmung flach und tendiert Richtung 20 Atemzüge pro Minute, ist auch der HRV-Wert niedrig. Man könnte meinen: Je regelmäßiger der Herzschlag, desto gesünder – aber weit gefehlt! Unser Herzschlag ist zum Beispiel beim Einatmen schneller und bei der Ausatmung langsamer und diese Variabilität (HRV) lässt unser Herz flexibler darin werden, sich auf innere und äußere Reize einzustellen und somit körperlichen und seelischen Belastungen besser zu begegnen. Die optimale Atemfrequenz liegt laut Forschung bei 6 Atemzügen pro Minute. Wenn man dies über einige Minuten kontrolliert übt, erreicht der Körper einen Ruhezustand, bei dem Atmung und Herzfrequenz im perfekten Einklang sind. Dies ist nicht nur gesund, sondern hilft auch beim Stressmanagement. Probieren Sie es einmal aus! Am besten in Rückenlage mit hochgelegten Beinen.

Atemkontrolle
Als Berufsmusikerin und studier- te Opernsängerin habe ich nicht nur jahrelang meine Atemkapazität durch optimale muskuläre Beteiligung meines Körpers trainiert, ich habe auch in Auftrittssituationen mit Lampenfieber gelernt, meinen Atem so zu kontrollieren, dass ich meine Aufregung regulieren konnte. Unser Atem ist in Extremsituationen wie zum Beispiel bei Lampenfieber, Geburtswehen, Panikattacken, Tiefseetauchen et cetera enorm gefordert. Durch eine korrekte, trainierte und gezielte Atmung ist es uns möglich, unseren Körper aus einer Alarmsituation wieder herauszuholen beziehungsweise ihn gut hindurchzubringen, denn die richtige Ein- und Ausatmung lässt uns scheinbar Unmögliches meistern. Jede Frau, die schon einmal Wehen hatte, weiß, dass man durch eine korrekte Atmung sogar den Wehenschmerz verringern kann. Warum ist dies so? Zum einen wird bei einer gezielten Atmung in einer Stresssituation wie der Geburt die Konzentration hin auf das Atmen und weg vom Schmerz gelenkt. Zum anderen gelangt durch tiefe Atmung mehr Sauerstoff in unsere Muskeln, was ebenfalls den Schmerz lindert.

Richtig atmen
Aber wie atmet man denn jetzt eigentlich korrekt? Im Gesangsunterricht erlebe ich regelmäßig, dass eine Aufforderung zum tiefen Atmen oft mit dem Hochziehen der Schultern und einer zu schwachen Beteiligung der Rippen und Bauch-, sowie Flanken- und Rückenmuskulatur verbunden ist. An einem gut ausgeführten Atemvorgang sind zahlreiche Teile unseres Körpers beteiligt. Neben der Lunge, die sich mit Luft füllt, senkt sich zeitgleich das Zwerchfell, die Rippen öffnen sich dank ihrer Flexibilität und so ist genug Platz im Körper geschaffen, damit die Lunge ihr ganzes Volumen entfalten kann. Atmen ist eben nicht gleich atmen. Landläufig spricht man von der sogenannten Bauchatmung. Als Sängerin jedoch atme ich nicht nur in den Bauch, sondern ebenso in den unteren Rücken und die Flanken. Das mag sich kompliziert anhören. Aber Sie können es auch! Und zwar jedes Mal, wenn wir gähnen, vollführt unser Körper automatisch diese korrekte Atemweise. Gleichzeitig kommt die Weitung des Rachens und das Heben des Gaumensegels hinzu, was wir beim Gesang zur optimalen Klangraumschaffung nutzen. Optimal geweitet und mit Luft angefüllt können Opernsänger lange Phrasen (viele Takte hintereinander) singen, ohne Luft zu holen – Holz- und Blechbläser tun dies übrigens genauso. Aber einmal gelernt heißt nicht, es ein Leben lang zu beherrschen. Immer wieder müssen auch berühmte Musiker an ihrer Atmung arbeiten. Denn unsere Gesamtverfassung wirkt sich auch auf unsere Art zu atmen aus. Wie wir uns fühlen, bestimmt auch die Art unserer Atmung. Nicht selten habe ich es erlebt, dass Gesangsschüler in meinem Unterricht anfangen zu weinen, wenn wir an der richtigen Atmung arbeiten. Manchmal passiert es, dass der Atem blockiert ist, weil man ein Problem oder ähnliches mit sich herumträgt – und in dem Moment, wo man den Atem unter professioneller Anleitung löst, brechen sich die angestauten Emotionen Bahn. Häufig kann ich als Gesansgpädagogin an der Art der Atmung meiner Schüler erkennen, ob sie ausgeglichen sind oder ihnen etwas auf der Seele liegt. Die Atmung eines Menschen lässt uns in seine Seele blicken, wenn wir ein Gespür dafür haben und geschult sind.

Atem- und Stimmstörungen
Haben Sie sich schon einmal mit einem Kind unterhalten, das nach jedem zweiten Wort hörbar und hektisch atmet (Schnappatmung)? Hat das Kind schnell und laut gesprochen, eine hohe Gesamtkörperspannung gehabt und im oberen Rumpfbereich verspannt gewirkt? Klang die Stimme rau und heiser? Dann handelt es sich um eine hyperfunktionelle Stimmstörung, die damit beginnt, dass die Atmung nicht ausgeglichen ist. Dies zeigt uns, dass eine falsche Art zu atmen auch negative Auswirkungen auf unseren Stimmapparat haben kann. Wie wir bereits oben gelesen haben, trifft dies sogar auf das Herz zu. Unsere Art zu atmen hat mehr oder minder große Auswirkungen auf unsere gesamte Gesundheit. Vor allem Berufsgruppen, die einer deutlich höheren stimmlichen Belastung ausgesetzt sind (Lehrer, Sänger, Schauspieler, Erzieher, …), sind darauf angewiesen, dass sie in ihrer Ausbildung bestimmte Werkzeuge an die Hand bekommen, die ihnen im Alltag ermöglichen, die Atmung und somit auch den Stimmapparat auf die besonderen Anforderungen vorzubereiten oder gegebenenfalls bei Stimmproblemen wissen, wie sie ihre Stimme am besten regenerieren und unter hoher Belastung schonen können. Meist jedoch stellen Therapeuten fest, dass in Studium/Ausbildung keinerlei Zeit darauf verwendet wurde – und so finden sich manche Berufsgruppen häufig beim Logopäden oder Atem- und Stimmtherapeuten wieder.

Atemübung zum Innehalten
Aber unabhängig davon, ob Sie zu einer dieser Berufsgruppen gehören, ob Sie bereits Stimm- beziehungsweise Atemprobleme hatten, ist das Erlernen des richtigen Atmens für jeden Menschen gesund. Alles beginnt mit einer aufrechten, lockeren Körperhaltung, denn nur so können Lunge, Zwerchfell, Rippenmuskeln et cetera optimal arbeiten. Stellen sie sich jeden Tag für einige Minuten ins Freie oder zumindest ans offene Fenster und atmen Sie langsam und bewusst ein und aus. Achten Sie darauf, dass Ihre Schultern sich nicht heben, sondern stattdessen Ihr unterer Rumpf geweitet wird – Bauch, Flanken und Rücken sich ausdehnen. Stellen Sie sich vor, Sie schicken die Luft in Ihre Oberschenkel. Und während Sie dies lesen, haben Sie wahrscheinlich schon automatisch ausprobiert, wie das geht. Eine tiefe Atmung massiert regelrecht unsere Organe und reguliert die Herzfrequenz. Wir ermöglichen dem Körper somit, sich zu erholen. Mit ein paar wenigen Minuten gezielter Atemarbeit am Tag gönnen Sie Ihrem Körper so etwas wie einen kurzen Erholungsurlaub. In dieser schnelllebigen und hektischen Zeit ist es genau das, was wir für unser Wohlbefinden brauchen: innehalten. Aber nicht nur der Körper darf kurz ruhen – auch unser Denken, unser Geist ruht und wird erfrischt. Johann Wolfgang von Goethe drückte dies so aus: Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einziehn, sich ihrer entladen. Jenes bedrängt, dieses erfrischt; So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich presst, und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt. Wer täglich nicht nur physisch, sondern auch seelisch atmet, indem er durch das Gebet Atem schöpft und in Gott ruht, hat wahrscheinlich den größten Erholungseffekt für Körper und Geist.

 

 

 

 

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