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Wann ein Marshmallow besonders gut schmeckt
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Mäßigkeit
Wann ein Marshmallow besonders gut schmeckt

Cornelia Dellmour
Lehrerin

Belohnungsaufschub und Mäßigkeit im Kindesalter

Die 8-jährige Hanna sah mich mit großen Augen an. Ich hatte eben erwähnt, dass ich auf unseren Ausflug Marshmallows für das Lagerfeuer mitgebracht hatte. «Ich habe das Marshmallow-­Video¹ gesehen», erklärte sie eifrig. Und nach einer Pause: «Aber ich weiß eigentlich nicht, wie ein Marshmallow schmeckt!» Hanna wächst mit ihrer Schwester in einer Familie auf, in der Mäßigkeit ein bedeutendes Erziehungsprinzip ist. Doch im Unterschied zu den meisten Familien, die ich kenne, haben ihre Eltern entschieden, Mäßigkeit nicht in Verbote zu verpacken, sondern ihren Kindern als Wert zu vermitteln.

Warum? Warum nicht?
Wenn Eltern Kindern in ihren Erziehungsbemühungen einen Wunsch versagen, kann es sein, dass sie dies hinterfragen. Warum sollen sie dies oder das essen, obwohl es ihnen nicht schmeckt? Warum kauft die Mutter diesen guten Saft nicht, nur weil er Zucker enthält? Warum können sie nicht Videos sehen, wann und so viel sie wollen? Wir antworten möglicherweise mit «… weil es gesund ist», «… weil es schädlich ist» oder «… weil du noch Aufgaben zu erledigen hast». Auch wenn Sätze wie diese kurzfristig über eine gewisse Verlegenheit hinweghelfen, besteht die Gefahr, dass die Kinder den Eindruck bekommen, Mäßigkeit sei die Verneinung all dessen, was für sie anziehend und angenehm ist.

Selbstkontrolle lohnt sich
Dabei ist Handlungsregulation etwas durch und durch Positives. Sie wird als Fähigkeit des Menschen gesehen, Herr oder Frau über sich selbst zu sein, sie bringt Ordnung in unsere Gefühlswelt, in Sehnsüchte, Wünsche und Neigungen und hilft uns, einen überlegten Umgang mit materiellem Besitz zu pflegen. Mäßigkeit spiegelt das Ausmaß wider, in dem ein Mensch mit Blick auf einen Zielgewinn auf die spontane Befriedigung eines Bedürfnisses verzichten kann. Die Auswirkungen einer funktionierenden Impulsregulation sind vielfältig und reichen von Erfolg in der Schule und am Arbeitsplatz über gute soziale Beziehungen bis hin zu langfristig besserer Gesundheit. Fehlende Selbstkontrolle trägt zu finanzieller Instabilität, dysfunktionalen sozialen Beziehungen sowie Anfälligkeit für Suchtverhalten und Kriminalität bei. Die Tugend, nicht alles tun zu müssen, worauf man gerade Lust hat, wird uns jedoch nicht in die Wiege gelegt. Diese Überlegung war Grundlage der lebenslangen Forschung von Walter Mischel (1930–2015). Er kritisierte die Einteilung von Menschen in willensstark und willensschwach und vertrat die Überzeugung, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle sei nicht von Geburt an festgeschrieben, sondern veränderbar. Seine mehr als 40-jährige Forschung begann mit seinen eigenen Kindern und deren Altersgenossen der Bing Nursery School, einer Kindertagesstätte der Stanford University. Die Studie ist heute noch als Marshmallow-Experiment bekannt. Mischel erkannte in der Fähigkeit zum selbstauferlegten Aufschub einer Belohnung einen bedeutsamen Aspekt der Reifung einer Persönlichkeit. Auch wenn man bei Kindern mit der Fähigkeit zum Belohnungsaufschub nicht automatisch darauf schließen könne, dass sie später ein gutes Leben haben, bräuchte es für eine stabile, zufriedene Persönlichkeit zwingend die Fähigkeit zur Handlungsregulation.

 

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