Mäßigkeit
Gesellschaftliche Transformation zu einer Kultur der Mäßigung
Kann der Mensch sich mäßigen?
Prof. Dr. habil. Thomas Vogel
Professor für Erziehungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
Maßlosigkeit wird zum Standard
Wir leben in einer Kultur der Maßlosigkeit.
Die privaten Konsumausgaben
stiegen in Deutschland im Jahr
2023 auf 2,03 Billionen Euro und erreichten
damit wieder einmal einen
Rekordwert. Noch 1991 lagen die Ausgaben
bei 867 Milliarden Euro, seitdem
sind sie ständig gestiegen. Shoppen
ist für viele Menschen eine der
beliebtesten Freizeitaktivitäten. Was
dabei gekauft wird, gelangt jedoch immer
schneller wieder in den Müll. Die
Menschheit häuft weltweit jedes Jahr
etwa zwei Milliarden Tonnen Abfall
an – und es wird stetig mehr. Wenn
sich daran nichts ändert, wird sich die
jährliche Menge Müll bis 2050 auf
3,4 Milliarden Tonnen steigern.
Ebenso wie die äußere Natur angesichts
des menschlichen Wachstumswahns
zu kollabieren droht, erkranken
immer mehr Menschen
physisch und psychisch. Die Zahl derer,
die unter Stress, Depressionen
oder unter einem Burnout-Syndrom
leiden, steigt in den Industrieländern
stetig; denn seelische Ressourcen gehorchen
den Gesetzen der Ökologie.
«Sie regenerieren sich, wenn wir sie
mäßig ausbeuten. Wenn aber die
Grenze zum Raubbau überschritten
wird, kippt das System, schon minimale
Belastungen überfordern es»,
schrieb der Psychoanalytiker Wolfgang
Schmidbauer in seinem Buch
«Raubbau der Seele. Psychogramm
einer überforderten Gesellschaft.»
Allein im Zeitraum zwischen 1991
und 2016 stieg die Verordnung von
Antidepressiva von 197 auf 1.467 Millionen
Tagesdosen, was einer Steigerung
von 745 Prozent entspricht! Eine
solche Entwicklung mag auf verschiedene
Ursachen zurückzuführen
sein, in jedem Fall macht sie deutlich,
dass Menschen auf der Suche
nach dem rechten Maß für ihr Lebensglück
ihr Ziel verfehlen.
Sich Mäßigen?
Sich zu mäßigen, erscheint also
ebenso schwierig wie angebracht.
Doch was soll man sich überhaupt
darunter vorstellen? Der Philosophie
von Maß und Mäßigung kann man
sich sinnvoll über verschiedene
Wortbedeutungen ihres griechischen
Namens «sophrosýne» als auch der
lateinischen Bezeichnung «temperantia
» nähern. Der ursprüngliche
Wortsinn des griechischen Wortes
sophrosýne bedeutete Besonnenheit,
womit man zugleich eine besonnene
Gelassenheit wie auch eine ordnende
Verständigkeit bezeichnete. Sophrosýne
stand für eine besondere
Klugheit und die Fähigkeit zur
(Selbst-)Beschränkung auf das Gute
und Wesentliche. Das Bedeutungsfeld
von sophrosýne umfasste einen
gesunden Verstand, Klugheit, richtige
Erkenntnis, Zurückhaltung,
Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit,
Nüchternheit, Anstand, Ordnung
und Sittlichkeit. Als Gegenteil von
Besonnenheit galten Impulsivität
und eine fehlende Affektkontrolle.
Auch der genauere Sinn der lateinischen
Übersetzung von Mäßigung mit dem Ausdruck «temperantia» erklärt
viel über seine philosophische
Bedeutung. Temperantia bezeichnete
das ausgleichende Zusammenspiel
zwischen Begierde, Mut und
Vernunft. Sie wurde als eine Weisheit
zur Gestaltung eines harmonischen
und glücklichen Lebens gesehen.
Wissend das Falsche tun und freudsche Theorien
Durch Mäßigung ein harmonisches
und glückliches Leben zu finden,
scheint uns jedoch mehr als schwerzufallen.
Der Mensch scheint nicht
gerade dafür prädestiniert, sich mit
dem Vorhandenen zu begnügen.
Jahrhundertelang mussten unsere
Vorfahren in einer Welt des Mangels
leben. Das Anhäufen von Vorräten
konnte angesichts permanent drohender
Krisen zur Überlebensfrage
werden. Noch im 14. Jahrhundert
starben ca. 15 Prozent der Bevölkerung
in England während einer Hungersnot.
Zurückhaltung und Beschränkung
gehörten deshalb kaum
zu den Eigenschaften, die dem Menschen
Vorteile verschafften. Die Geschichte
prägte ihn eher zum Anlegen
möglichst großer Vorräte.
Auch die Psychoanalyse liefert
Erklärungen, warum Menschen sowohl
individuell als auch gesellschaftlich
über die existenz bedrohenden
Folgen ihres Handelns wissen
und
trotzdem darin fortfahren. So war
Siegmund Freud zum Beispiel der
Auffassung, dass der Mensch von
seiner seelischen Veranlagung her
zur Mäßigung nur schwerlich fähig
sei. Er begründete diese These damit,
dass das Leben, das dem Menschen
auferlegt ist, zu schwer sei
und ihm zu viele Schmerzen, Enttäuschungen
und unlösbare Aufgaben
bringe. Als Ursachen des menschlichen
Leids nennt Freud die «Übermacht
der Natur, die Hinfälligkeit
des eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit
der Einrichtungen, welche
die Beziehungen der Menschen
zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft
regeln». Schlussfolgernd:Um das Leben ertragen zu können,
benötigen wir «Linderungsmittel».
Freud beschreibt hierzu drei Gruppen:
«Ablenkungen, die uns unser
Elend geringschätzen lassen, Ersatzbefriedigungen,
die es verringern,
Rauschstoffe, die uns für dasselbe
unempfindlich machen». Der einzige
Lebenszweck des Menschen besteht
nach Freud in einem «Programm
des Lustprinzips». Dieses
Programm beherrsche den seelischen
Apparat des Menschen von
Anfang an. Allerdings widerstreben
alle Voraussetzungen diesem Ziel
der Befriedigung der Lust und «man
möchte sagen, dass der Mensch
‹glücklich› sei, ist im Plan der ‹Schöpfung›
nicht enthalten». Deshalb
seien unsere Glücksmöglichkeiten
«schon durch unsere Konstitution
beschränkt» und «uneingeschränkte
Befriedigung aller Bedürfnisse»
würde sich dem Menschen als die
«verlockendste Art der Lebensführung
» aufdrängen. Aus dieser Argumentation
heraus gelangt Freud zu
der äußerst pessimistischen Einschätzung,
der Mensch brauche und
nutze die Bedürfnisbefriedigung zur
Leidabwehr und zur Vermeidung
von Unlust. Nach dieser Freudschen
Prämisse wären die Welt und ihre
Bewohner machtlos dem Übel ausgesetzt.
Betrachtet man die Konsumwerbung,
so gibt es unzählige Indizien
dafür, dass Güter sowie Dienstleistungen
– mit dem Versprechen
der Ersatzbefriedigung oder der Ablenkung
verknüpft – die Menschen
vor dem Daseinsschmerz «schützen
». Der Konsum liefert die nötige
Zerstreuung und lenkt von den wesentlichen
Fragen eines befriedigenden
Lebens ab. Aber selbst wenn
Freud keinen absoluten Beweis dafür
lieferte, dass der Mensch unfähig zur
Mäßigung sei, erscheint seine Argumentation
dahingehend überzeugend,
dass die psychische Grundposition
des Menschen im Verein mit den
systemischen Grundregeln des Kapitalismus
ein äußerst schwieriges
Konglomerat bildet, das der Forderung
nach Mäßigung verstärkt entgegensteht.
Allerdings:
Die Rastlosigkeit der Menschen, ihr
unreflektierter Aktionismus und das
Streben nach mehr Gütern stellen
offensichtlich nicht erst heute,
sondern in der gesamten Menschheitsgeschichte
ein Problem dar.
Der griechische Philosoph Sokrates
(470–399 v. Chr.) soll nach einem
Bericht von Diogenes Laertius
(180–240 n. Chr.) beim Anblick der
massenhaften Verkaufsartikel, die es
anscheinend auch in der Antike
schon gab, oft zu sich selbst gesagt
haben: «Wie zahlreich sind doch die
Dinge, derer ich nicht bedarf.» Mit
Mäßigung und Maßlosigkeit beschäftigt
sich der Mensch nicht erst seit der
Wahrnehmung einer gesellschaftlichen
Naturkrise in den 1970er Jahren
und dem Bericht des Club of Rome über «Die Grenzen des Wachstums».
Bereits in der Antike wurde über das
rechte Maß philosophiert. Seit den
Anfängen philosophischen Denkens
spielen die Begriffe Maß, Mäßigung
oder Mäßigkeit eine zentrale Rolle.
Dabei kann man das philosophische
Nachdenken über Mäßigung in zwei
Kategorien einteilen: erstens die Erkenntnis,
dass Maß und Mäßigung
zur Harmonie und zum Lebensglück
des Menschen gehören, dass also weder
das Zuviel noch das Zuwenig den
Menschen zufriedenstellt; und zweitens
die Einsicht, dass es zum Wesen
des Menschen gehört, dass er über
das rechte Maß reflektiert.
Die Bedeutung der Mäßigung für
ein gelungenes Leben hatte schon der
Vorsokratiker Demokrit aus Abdera
(460–371 v. Chr.) erkannt: «Wohlgemutheit
erringen sich die Menschen
durch Mäßigung der Lust und Harmonie
des Lebens. Mangel und Überfluss
aber pflegt umzuschlagen und
große Erregungen in der Seele zu verursachen.
» Er stellte die Forderung
auf, dass der Mensch sich auf seine
eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten
besinnen und nicht mit Neid auf
die anderen schauen sollte. Demokrit
mahnt, man sollte sich besser mit
denen vergleichen, denen es schlechter
geht, und die eigene Situation mit
deren Schicksal vergleichen; denn
dann erscheint die eigene Lebenssituation
in einem weitaus positiveren
Licht, und durch solche Bescheidenheit
kann der Mensch Schaden an der
eigenen Seele abwenden.
Es gibt Hoffnung
Auf der Grundlage dieser Betrachtungen
gibt es zahlreiche Zweifel,
dass der Mensch sich mäßigen kann.
Mehr Zuversicht liefert die Anthropologie,
die den Menschen als weltoffen
beschreibt und ihm zumindest
die Fähigkeit zur Mäßigung zutraut.
Weltoffenheit bedeutet, dass der
Mensch in seinen Entscheidungen
frei ist. Für sein Handeln sind ihm
keine Maßstäbe vorgegeben und er
ist deshalb gezwungen, immer wieder
neu seine Maßstäbe zu bestimmen
und sich Grenzen zu setzen. Er
ist, wie es Sartre ausdrückte, dazu
«verurteilt, frei zu sein». Doch wie
können wir eine besonnene Gelassenheit
und ein maßvolles Leben erreichen?
In Anlehnung an hellenistisch-
römische Vordenker wie Seneca,
Aurel oder Epikur beschreibt
Foucault zahlreiche Praktiken der
Selbstkultur, die das Selbst zu einer
souveränen Selbstbeherrschung führen
sollen: «Übungen dieser Art sind
[...] Zurückhaltung in Speise und
Trank bei gleichzeitigem Anschauen
üppigster Tafeln, Selbstkontrolle der
Begierde bei visuellem Kontakt zu attraktiven
möglichen Geschlechtspartnern,
die berühmte stoische Regel,
stets zu prüfen, was in der
eigenen Macht liegt und was nicht,
um daran anschließend unnützen
Ärger und Aufregung zu sparen, das
‹Bilanzieren› am Ende des Tages, um
die gelungenen von den missglückten
und zu tadelnden Handlungen
zu unterscheiden.» Solche Übungen
dienen einer «Kunst der Selbsterkenntnis
»: «Die Proben, denen man
sich unterzieht, sind keine Stufen
wachsenden Entzugs; sie sind eine
Weise, die Unabhängigkeit zu messen
und zu bestätigen, die man gegenüber
alle dem, was nicht unverzichtbar
und wesentlich ist, besitzt.»
Der Mensch erlangt durch solche
Übungen Freiheit und Selbstbestimmung.
Die Mäßigungsphilosophie, wie
sie sich in den vergangenen Jahrtausenden
entwickelt hat, liefert eine
positive Lebensphilosophie, welche
mit dem Ziel verbunden ist, die Menschen
möglichst von vornherein
gegen vereinnahmende Verhältnisse
zu stärken. Die Suche nach dem rechten
Maß, die im Zentrum dieser
Philosophie steht, fordert nicht ein
Minimum, sondern einen harmonischen
Weg zwischen einem Zuviel
und einem Zuwenig. Dabei besteht
immer die Möglichkeit, dass der
Mensch die sogenannte «goldene
Mitte» verfehlt und ständig auf der
Suche nach dem richtigen Maß
bleibt. Es bleibt die Hoffnung, dass
die Menschen erkennen, was schon
Platon formulierte: «Die ersten und
kostbarsten Güter der Seele besitzt
man, wenn die Mäßigung darin
wohnt.»
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