Luft
Nicht das Atmen vergessen!
Mir stockte der Atem. Für einen kurzen Moment bekam ich keine Luft. Unser Sohn war nirgends zu sehen. Hatten wir ihn wirklich verloren?
Ben Bornowski
Pastor mit Schwerpunkt Jugendarbeit
Zuerst sahen wir im Pool nach, um sicherzugehen, dass ihm nicht die Luft ausging, während wir in der Hotelanlage nach ihm suchten. Dabei wurde bei uns die Luft dünn. Mit jeder Minute, die wir unseren Sohn nicht fanden, machten sich in uns mehr Angst und schlimme Befürchtungen breit. Als er dann aus seinem Versteck herausgekrochen kam und uns mit einem freudigen «Buuh» begrüßte, kam es mir so vor, als ob ich einige Zeit ohne Luft gewesen wäre und nach einem langen Tauchgang auf einer 25 Meter-Bahn im Swimmingpool wieder auftauchte, um Luft zu holen.
Wenn die Luft wegbleibt
Ist Ihnen schon einmal für einen Moment die Luft weggeblieben, weil Sie das Atmen vergessen haben? Momente, die uns den Atem rauben – wie beispielsweise der Gedanke an die atemberaubende Aussicht des Grand Canyon, die Geburt des eigenen Kindes oder die überragende Leistung des Ensembles bei einem Kammerkonzert. Doch dann sind da auch Situationen wie oben beschrieben, in denen man zwar atmet, aber es einem so vorkommt, als ob man doch die Luft anhalten würde beziehungsweise gar keine Luft da wäre, um atmen zu können. Die verzweifelte Suche nach dem Autoschlüssel, die unerwartet hohe Rechnung des Stromanbieters oder die Beerdigung der besten Freundin. Die Kündigung, die nicht bestandene Prüfung oder der anhaltende Konflikt mit der Tochter, dem Arbeitskollegen oder dem Partner. All diesen Momenten ausgeliefert, fühlen wir uns zeitweise oder auch für einen längeren Zeitraum so, als ob wir nicht richtig atmen könnten oder uns sogar die Luft wegbliebe. Dabei sind es doch gerade Momente wie diese – ähnlich einem Sprint über den Rasen oder über eine Bergstrecke mit dem Mountainbike, für die wir mehr Luft benötigen und nicht weniger!
Luft im Tank
Als wir neulich mit einer Jugendgruppe in einem Reisebus nach Finnland, Schweden und wieder zurück nach Deutschland unterwegs waren, kamen wir nicht umhin, den Bus gelegentlich aufzutanken. Als der Tankvorgang beendet war und wir wieder unterwegs waren, fragte ich den Bus-Chauffeur, warum die Tankanzeige nicht auf «ganz voll» stand. «Luft im Tank», erwiderte dieser. Möglicherweise ist es Ihnen auch schon passiert, dass Sie mit dem Auto wirklich mit dem letzten Tropfen Benzin an die Zapfsäule rollten. Als Sie dann den Deckel zum Tank öffneten, hörten Sie das laute Zischen des Tanks, aus dem Luft entwich. Der darin entstandene Überdruck wurde durch das Öffnen aufgelöst. Ebenso muss auch die «Klappe» unseres Lebenstanks hin und wieder geöffnet werden, damit der Druck entweichen kann und wir nicht nur frische Luft, sondern auch Treibstoff in Form von Nahrung, guten Gedanken und Gefühlen zu uns nehmen können. Doch wie im Beispiel mit dem Reisebus, der nebenbei erwähnt sogar mit zwei großen Tanks ausgerüstet ist, entweicht auch aus unserem Leben nicht alle alte Luft einfach nur durch das Öffnen des Tankdeckels. Sie kennen das sicher, wenn Sie so aufgeregt sind, dass Sie nichts essen können – zum Beispiel vor einem Auftritt, einer Hochzeitsansprache oder einer Prüfung. Dieser Druck sorgt kurzfristig für Konzentration und Anspannung, um uns fokussiert sein zu lassen. Doch auf Dauer schadet uns eine solche Anspannung. Unser Lebenstank muss beständig von dicker Luft befreit werden, die in uns ein Vakuum erzeugt, das den Platz für das Gute einnimmt.
Einmal Luft zum Mitnehmen, bitte
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Luft für spätere Situationen zu holen und zu speichern? Sie schütteln verständlicherweise den Kopf – bitte, wer kann Luft speichern? Ja, wir brauchen Luft – jeden Moment aufs Neue. Man kann Luft nicht für später speichern! Ähnlich ist das mit Nahrungsaufnahme, Schlaf und Freude! Wir zehren einen Moment lang von den Urlaubserinnerungen, gutem Essen oder einem Wochenende mit Freunden. Doch wir sind darauf ausgelegt, immer wieder aufs Neue Luft zu holen und belebt zu werden. Das Atmen besteht nicht nur aus Luftholen, sondern auch aus Ausatmen. Die verbrauchte und abgestandene Luft muss raus! Bevor frische Luft zugeführt wird, muss die alte abtransportiert werden. Wie steht es denn um all den überschüssigen Ballast in unseren Herzen – die abgestandene Luft mit all den Konflikten, dem Stress und den Ängsten? Anders als beim Atmen werden unsere Konflikte nicht automatisch absorbiert. Während man das Atmen im Grunde nicht vergessen kann, ist es wichtig, dass Sorgen, Ängste und dicke Luft ganz bewusst «ausgeatmet» werden – es gehört eben noch mehr dazu, als lediglich den Tankdeckel zu öffnen.
Ausatmen nicht vergessen
Wie das gelingen kann? Möglicherweise wissen Sie, welche Dinge Sie ganz aktiv beschäftigen, Ihnen die Luft und den Schlaf rauben. So manches Mal aber schlummern unsere Sorgen und Ängste – wir träumen schlecht, sind abgelenkt, verstimmt oder fühlen uns abgekämpft. Hilfreich kann dann sein, sich einen Moment zu nehmen und ausgerüstet mit einem Blatt Papier und einem Stift aufzuschreiben, was einem dazu in den Sinn kommt. Beginnen Sie damit, sich ganz allgemein zu fragen, was Ihnen Stress bereitet. Unpünktlichkeit, ein übervoller Terminkalender, Lärm, Ungerechtigkeit, Streit, zu wenig Schlaf … Fragen Sie sich dann, wo Ihnen diese Dinge konkret begegnet sind. Auch wenn eine solche Liste noch nicht die Lösung der Probleme beinhaltet, können unsere Gefühle dadurch bereits beruhigt werden, weil wir nun konkret um sie wissen. Unsere Gefühle agieren wie ein Feuermelder oder der Alarm eines Autos – der Zweck besteht darin, zu warnen. Haben Sie die Warnung wahrgenommen, kann der Alarm abgestellt werden. Unsere Gefühle wollen wahrgenommen werden, und da hilft es, wenn wir aufmerksam werden und uns zumindest teilweise bewuss wird, warum wir so empfinden, wie wir empfinden.
Sorgen Sie sich nicht umsonst
Reinhold Niebuhr, ein US-amerikanischer Theologe, formulierte einmal folgendes Gebet: «Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.» Egal, ob das Gebet zu unseren täglichen Begleitern gehört, kann diese Aussage einen Unterschied machen. Nämlich in der Art und Weise, wie wir mit den Herausforderungen des Alltags umgehen. Die Unterscheidung zwischen den Dingen, die hinzunehmen, und solchen, die anzupacken sind. Dies kann ein erster Schritt sein, tief Luft zu holen und somit Kraft zu mobilisieren, sich von überschüssigem Ballast zu trennen. Gaur Gopal Das, ein indischer Lebensberater, stellt uns folgende Fragen zur Verfügung, um die lösbaren und unlösbaren Probleme voneinander unterscheiden zu können:
1. «Hast du ein Problem in deinem Leben?» «Kannst du es lösen?» «Ja?» «Warum sorgst du dich dann?»
2. «Hast du ein Problem in deinem Leben?» «Kannst du es lösen?» «Nein?» «Warum sorgst du dich dann?»
Wir mögen schmunzeln, doch tatsächlich kann uns die Unterscheidung helfen, Druck von unserem Herzen zu nehmen! Helfen wir uns und unseren Gefühlen, sich nicht umsonst bis ins Bodenlose zu sorgen. Verbringen wir nicht zu viel Zeit damit, uns um Umstände zu kümmern, die wir nicht ändern können!
Klarheit schafft Perspektive
Möglicherweise gehören Sie wie meine Frau zu den Personen, die stets das Wetter überprüfen, besonders dann, wenn eine Reise bevorsteht. Nicht nur vor einem längeren Urlaub, sondern auch vor Tagesausflügen und anderen kurzen Gelegenheiten. Wie Sie aber sicherlich schon festgestellt haben, verändert sich das Wetter nicht aufgrund unserer gewissenhaften Überprüfung desselben. Aber die Einschätzung des Wetters kann uns helfen, unsere Kleidung entsprechend zu wählen. Ganz ähnlich verhält es sich mit unseren Sorgen: von ihnen Kenntnis zu haben, verändert nicht die Situation. So manche Situation bleibt unveränderlich. Doch kann uns die Einschätzung helfen, uns entsprechend vorzubereiten. Zudem kann die Konfrontation sogar dafür sorgen, dass aus mancher Sorge eine Freude wird, denn dort, wo ich gerade noch Wolken erwartete, lichtet sich plötzlich der Horizont. Und dass lediglich dadurch, dass ich mir meine Befürchtungen und Sorgen konkret vor Augen geführt habe. Haben Sie noch Ihr Blatt Papier mit all dem, was Sie momentan bedrückt? Warum gönnen Sie sich nicht jetzt gleich einen Moment Zeit und setzen sich aufrecht hin, legen Ihren Sorgenzettel vor sich, atmen einmal tief ein und halten kurz inne, bevor sie bewusst ausatmen und alle Luft aus Ihren Lungen nach draußen befördern. Denken Sie während des Ausatmens an eine Luftmatratze, aus der wirklich die letzte Luft gepresst werden muss. An diesem Punkt angelangt, atmen Sie wieder ein, um Ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen. Wiederholen Sie die Übung und atmen Sie nicht nur die verbrauchte Luft, sondern auch bewusst Ärger und Ängste aus. Welche Situationen liegen auf Ihrem Herzen und nehmen Ihnen den Platz für frische Luft? Welche Worte von anderen haben Sie verletzt und sind nicht ausgeatmet und ausgesprochen worden? Welche vor Ihnen liegende Herausforderung schnürt Ihnen den Hals zu und lässt Sie nur flach atmen? Ihre Sorgen mögen durch das bewusste Atmen nicht plötzlich verschwinden, doch möglicherweise haben Sie nun etwas mehr Luft, um die lösbaren Situationen anzugehen.
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