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Mehr als Fitness-Studio und Kaffeekränzchen
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Vertrauen
Mehr als Fitness-Studio und Kaffeekränzchen

Dr. Winfried Vogel
Theologe, Lebens- und Sozialberater und TV-Redakteur

Wir brauchen einander. Unsere Seele wird heil, wenn wir mit anderen über alles reden können, was uns bewegt. Noch besser ist es, wenn wir mit Menschen zusammen sind, die in ihrem Leben einen Sinn gefunden haben. Die Kirche kann ein solcher Ort sein.

Der Anruf erreichte meine Frau und mich beim Einkaufen im Supermarkt. «Könnt ihr reden?», fragte eine bekannte Stimme. Wir wurden hellhörig. Denn wir kannten Kerstin* zwar aus unserer Kirchengemeinde, aber sie hatte uns noch nie angerufen. Und jetzt mit dieser Frage, die vermuten ließ, dass irgendetwas passiert war. Als wir sagten, wir seien gerade beim Einkaufen, kam sofort die Antwort: «Dann ruf ich euch an, wenn ihr wieder zu Hause seid.» Als sie schließlich noch mal anrief, sagte sie: «Ich wollte euch sagen, dass Jakob* heute mit dem Fahrrad tödlich verunglückt ist.» Jakob, ihr Mann und der Pastor unserer Kirche. Ein Mensch, mitten aus dem Leben gerissen. Ein Schock, der sprachlos macht.
Am Tag darauf trafen wir uns in unserer Kirchengemeinde zu einem bewegenden Trauergottesdienst. Für alle war es eine der schmerzhaftesten Krisen überhaupt. Eine Ehefrau und Mutter von zwei Kindern stand vor der existentiellen Frage, wie es nun ohne den Ehemann und Vater weitergehen sollte. Kerstin saß mitten unter uns, mit Tränen in den Augen, aber froh, mitfühlende Menschen um sich zu haben, die genauso weinten wie sie. Immer wieder sagte sie: «Gerade jetzt brauche ich euch, meine Gemeinde.»

Wir sind soziale Wesen
Menschen brauchen Menschen. Das mag wie eine Binsenweisheit klingen, doch in Krisenzeiten zeigt es sich umso deutlicher, wie wahr das ist. Nicht nur in den ganz persönlichen Zeiten der Not, sondern auch in den globalen Krisen, die wir inzwischen kaum mehr an einer Hand abzählen können. Unweigerlich führt das zu großen Unsicherheiten. Wie sieht meine, wie sieht unsere Zukunft aus? Werde ich das alles überleben? Werden wir uns das Leben wie bisher auch weiterhin leisten können? Und dann ist da noch die große Frage im Hintergrund: Wird mein persönliches Umfeld so bleiben, wie es ist? Welches Schicksal ist mir und meiner Familie beschieden? Könnte es sein, dass ich oder jemand aus meiner Familie vom Arzt eine unheilvolle Diagnose bekommt? Und was ist, wenn der liebste Mensch plötzlich durch einen Unfall ums Leben kommt? Was mache ich dann? Wie gehe ich damit um? Gerade dann brauchen wir einander. Wir müssen darüber reden können, wir sehnen uns nach mindestens einer Person, die uns zuhört und uns in unserer Not versteht. Die Handy­generation, zu der wir ja alle gehören, tut sich nicht so schwer, eine solche Person zu finden. Sie ist im günstigsten Fall ja nur einen Klick entfernt. Und wenn ich Stammkunde im Fitnessstudio bin, finde ich wahrscheinlich dort jemanden, mit dem ich mehr als nur ein paar Worte wechseln kann. Auch bei Kaffee und Kuchen lässt sich gut reden, über alles Mögliche, aber eben auch über das, was mich gerade bewegt, und vielleicht offenbare ich sogar meine besondere Not. Wie wir wissen, spielen die sogenannten Spiegelneuronen bei unseren zwischenmenschlichen Begegnungen eine entscheidende Rolle. Fachleute sprechen hier von der Bedeutung eines sozialen Resonanzraums, in dem es möglich ist, bereits durch kleinste Gesten, durch Mimik und vor allem durch Blicke unsere neuronalen Systeme zu aktivieren – und das bedeutet nichts anderes, als das Gefühl zu bekommen, verstanden zu werden.

Wir suchen nach Sinn
Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, werden wir allerdings zugeben müssen, dass wir uns gerade in Krisenzeiten nach mehr sehnen, als nur mit jemandem reden zu können. Insgeheim stellen wir nämlich ständig die Sinnfrage, und die ist die elementarste aller Fragen. Sie wird auf zwei Ebenen gestellt. Zum einen geht es um den Sinn dessen, was gerade geschieht, und zum anderen um den grundsätzlichen Sinn des Lebens, unseres Daseins auf diesem Planeten. Diese beiden Ebenen sind eng miteinander verknüpft, denn gerade, wenn wir von persönlicher Not betroffen sind, fragen wir auch nach der Sinnhaftigkeit unserer Existenz. Viktor E. Frankl, der bekannte Wiener Neurologe und Psychiater, schildert genau dies in seinem legendären Buch «... trotzdem Ja zum Leben sagen» über seine Erlebnisse in verschiedenen Konzentrationslagern der Nazis: «Zum tausendsten Mal ringst du um eine Antwort, ringst du um den Sinn deines Leidens, deines Opfers ... In einem letzten Aufbäumen ... fühlst du deinen Geist das Grau, das dich umgibt, durchstoßen, und in diesem letzten Aufbäumen fühlst du, wie dein Geist über diese ganze trostlose und sinnlose Welt hinausdrängt und auf deine letzten Fragen um einen letzten Sinn zuletzt von irgendwoher dir ein sieghaftes ‹Ja!› entgegenjubelt.»1 Wir Menschen kommen auf unserer Suche nach Sinn an der Frage, was «Ziel und Zweck» dieser Welt ist, nicht vorbei. Schließlich findet unsere eigene Existenz in dieser Welt statt und ist damit eingebunden in etwas Größeres, in das Sein schlechthin. Doch diese große Frage nach dem Sinn allen Seins können wir selber nicht beantworten. Wir können sie uns, so Frankl, nur durch den «Durchbruch in die höhere Dimension» beantworten lassen, und der «geschieht aber nicht in einem Wissen, sondern im Glauben.»2 Frankl berichtet davon, wie selbst Atheisten, die es zeitlebens vehement abgelehnt haben, an ein «höheres Wesen» oder einen höheren Sinn des Lebens zu glauben, auf dem Sterbebett eine Geborgenheit ersehnen, die ihrer bisherigen Weltanschauung Hohn spricht. Es scheint also in uns Menschen hineingelegt zu sein, nach dem Sinn des Ganzen zu fragen. Albert Einstein war der Überzeugung, dass es zutiefst religiös ist, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Und Religion schließt die Frage nach dem Übersinnlichen ein, und das wiederum führt zur Frage nach einem personenhaften Wesen, das wir allgemein Gott nennen.

Wir suchen nach Gott
Wenn ich mit Menschen über die Sinnfrage und über Gott reden will, stoße ich regelmäßig auf ein Hindernis, das offenes Nachdenken fast unmöglich macht: die Kirche. Es hat sich scheinbar in vielen Köpfen festgesetzt, dass Gott gleich Kirche ist. Und Kirche ist eine Institution, die den Glauben an Gott «verwaltet». Kirche, so meint man, hat das Monopol, wenn es um Gott geht. Und Kirche sind Menschen, die nicht nur fehlerhaft sind, sondern mitunter ein völlig falsches Bild von Gott vermitteln. Wie grotesk ist es, dass gerade die Menschen, die in einer Kirche den liebenden Gott verkünden sollen, von ihnen abhängige Menschen geistig, geistlich und körperlich missbrauchen. Kein Wunder, dass viele sich wütend und enttäuscht abwenden und mit Kirche nichts mehr zu tun haben wollen. Das Fatale ist, dass für sie damit auch Gott überflüssig wird, weil sie meinen, Gott zu kennen, wenn sie Kirche kennen. Doch zuallererst sind wir auf der Suche nach einem persönlichen Gott, nach jemandem, dem wir vertrauen können – und das selbst dann, wenn wir an unserem momentanen Schicksal zu verzweifeln drohen. Hoffnung nicht nur in diesem Leben, sondern auch über dieses Leben hinaus. Wer die vertikale Dimension als Möglichkeit zulässt, wird lohnende Entdeckungen machen. Und dabei feststellen, dass Gott eben nicht gleich Kirche ist. Wer Zugang zu diesem höheren Wesen Gott findet, wird auch einen neuen Zugang zu Kirche finden. Kirche nicht als Institution, nicht als Verwalterin der Lehren über Gott, sondern als eine beglückende Gemeinschaft von Menschen, die im Glauben an Gott die Sinnfrage beantworten können. Es ist eine Sache, mit Menschen zu reden und Freud und Leid zu teilen, sich ihnen mitzuteilen. Das unterstützt die seelische Gesundheit. Es ist aber noch mal eine ganz andere Sache, sich mit Menschen auszutauschen, die selber eine Zuversicht in sich tragen, die nicht von dieser Welt ist. Mit Menschen zusammen zu sein, die den gleichen Blick auf das Leben, auf die Welt, auf den Sinn des Daseins haben, ist von unschätzbarem Wert. Das ermutigt über unser kleines Leben hinaus, das gibt eine Perspektive für die Zukunft, in der sogar der Tod seinen Schrecken verliert. Und das ist Kirche, wie der Gründer der ersten Kirche, Jesus Christus, sie immer gedacht hat: eine Begegnung von Menschen, die eine neue Geborgenheit gefunden haben im Wissen um das, was dem Leben auf dieser Erde Sinn gibt, und direkten Einfluss auf den gelebten Alltag hat.

Es hat uns als Kirchengemeinde sehr berührt, als Kerstin erzählte, wie sie kürzlich den LKW-Fahrer besuchte, der ihren Jakob auf dem Gewissen hat, und wie sie ihm versicherte, dass sie keinen Groll gegen ihn hegt, sondern ihm verziehen hat. Möglich ist das nur, weil für Kerstin die große Sinnfrage geklärt ist und sie sich in einer Gruppe von Menschen wohlfühlt, die im Glauben ihre Kraft zum Leben gefunden haben.

1 Viktor E. Frankl, ...trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (München: Kösel, 2009), 67-68.
2 Viktor E. Frankl, Der unbewußte Gott – Psychotherapie und Religion (München: dtv, 1992), 61.

*Namen geändert

 

 

 

 

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