Vertrauen
Vertrauen lohnt sich!
Gabriele Stangl
Pastorin und Seelsorgerin
Zu vertrauen bedeutet immer, sich ein Stück fallen zu lassen und Kontrolle abzugeben. Oft kommt es einem Sprung ins Ungewisse gleich. Doch was wäre unser Leben, wenn wir nicht versuchten, herauszufinden, was oder wer wirklich trägt?
Leben heißt vertrauen
Ein Baby wird geboren. Die Stunden der Schmerzen und der Qual, der Sorge und der Angst sind mit einem Schlag vergessen. Freundlich lächelnd legt die Hebamme den frischgebackenen Eltern das Kind in den Arm. Noch immer rot im Gesicht, völlig erschöpft und mit verschwitzten Haaren von der Anstrengung der Geburt, hält die Mutter das Kind fest an der Brust, bestaunt dieses kleine Wunder und lächelt ihren Partner an. Sie haben es geschafft, das Kind ist da! Ihr größtes Glück – niemals werden sie zulassen, dass es diesem kleinen Wesen an irgendetwas fehlt. Darauf darf es sich verlassen …!
Vom ersten Augenblick unseres Lebens an müssen wir vertrauen: vertrauen in das Leben selbst und alles, was dazu gehört. Eines der wichtigsten Dinge, die einen Menschen im späteren Leben zu einer stabilen Persönlichkeit machen, ist das sogenannte Urvertrauen, jene soziale Sicherheit, die ein Kind in den ersten Monaten seines Lebens erfahren und entwickeln muss, um ein glücklicher Mensch zu werden. Dieses Urvertrauen schenkt uns das Gefühl, dass man selbst, so wie man ist, und die Welt um uns herum in Ordnung sind und man sich auf sie und später auch auf sich selbst und seine Fähigkeiten verlassen darf.
Ein Leben ohne Vertrauen ist schlichtweg unmöglich
Ich frage mich, wie ein Leben ohne Vertrauen überhaupt funktionieren soll. Wenn ich heute im dichten Nebel über einen Bergpass fahre, vertraue ich darauf, dass die Straße nicht urplötzlich aufhört und im Nichts endet. Vertrauen ermutigt, mich aus «vertrauten» Situationen herauszubegeben, Neues anzufangen und unbekannte Gefilde zu betreten. Vertrauen schenkt mir den nötigen Mut, Aufgaben anzupacken, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie getan habe, oder Menschen zu lieben, die ich bis dahin nicht gekannt habe.
Will ich ein glückliches, freies Leben führen, muss ich vertrauen können! Jemand sagte so treffend: «Vertrauen ist die schönste Form von Mut.» Im Vertrauen steckt so viel Kraft, so viel Lebendigkeit und Leichtigkeit, und gleichzeitig ist es solide, beständig und tragfähig. Vertrauen ist ein grundlegendes Gefühl, das Menschen zusammenhält und sie miteinander in Beziehung bringt. Es ist eine innere Kraft, eine Lebenskraft, die mich nach vorne bringt und wachsen lässt. Es heilt mich und schenkt mir Glück und Zufriedenheit. Ja, und es schenkt mir auch den Mut, mir helfen zu lassen, wenn ich Hilfe brauche. Es ist ein «Ich-kann-mich-drauf-Verlassen».
Zum Vertrauen kann ich mich entscheiden
In den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Krankenhausseelsorgerin durfte ich immer wieder feststellen, wie wichtig Vertrauen auch in einem Heilungsprozess ist. Die Frage, die sich immer wieder stellt, war und ist: WEM kann ich vertrauen?
Ich erinnere mich an eine Patientin, die völlig aufgelöst und hilflos bei uns im Krankenhaus ankam, um eine wirklich notwendige Operation durchführen zu lassen. Diese arme Seele – ich nenne sie hier Monika – hatte wirklich allen Grund, verzweifelt zu sein. Sie besaß aber auch eine reelle Chance, wieder ganz gesund zu werden, wenn sie den Anweisungen und der Hilfe der Ärzte vertrauen würde. Doch genau in diesem Punkt lag ihr eigentliches Problem.
«Frau Pastorin, weiß ich, ob ich wieder aufwachen werde, wenn man mich in Narkose legt? Vielleicht wirkt die Narkose nicht bei mir … ! Ich kenne diese Menschen ja gar nicht, die mir den Bauch aufschneiden und mir diesen Tumor entfernen wollen. Woher weiß ich, dass sie es richtig machen werden? Ich bin in meinem Leben schon so oft enttäuscht worden, ich kann niemandem mehr vertrauen … !» Monika weinte bitterlich. Es zerriss mir das Herz, sie in ihrer tiefen Verzweiflung zu sehen. Eins ums andere Mal fragte ich mich, was nur geschehen war, dass sie mit so viel Angst und solchen Zweifeln kämpfte.
Wir kamen in unseren Gesprächen nur sehr langsam voran. Ihr größtes Problem war ihre Unfähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen. Sie hatte diverse Ängste, über die sie mit kaum jemandem sprechen konnte und die ihr buchstäblich die Kehle zuschnürten, sodass sie immer wieder nach Luft rang, sobald sie darüber berichtete. Wir brauchten Zeit, Ehrlichkeit und viele Gespräche, um ihre Situation zu klären und ihr eine Vorstellung von dem zu geben, was ihr helfen könnte.
Zuletzt haben wir jemanden gefunden, dem zu vertrauen sie bereit war: Es war Gott. Monika, die Gott nur vom Hörensagen kannte, wollte es mit ihm versuchen. Ich begleitete sie in den OP-Saal, versprach ihr, bei ihr zu bleiben, und betete mit ihr. Noch in dem Moment, in dem sie die Narkose bekam, fragte ich sie, ob sie Angst habe. Mit einem Lächeln im Gesicht schüttelte sie dankbar den Kopf.
Wir haben es alle gemeinsam geschafft, sie durch diese lebensnotwendige und rettende Operation zu führen. Es war kein leichtes Unterfangen, aber zum Schluss hatte diese liebe Frau nicht nur ihre Gesundheit wieder erhalten, sondern auch den Anfang für ein neues Leben gelegt, das wieder Vertrauen zuließ und somit auch die Basis zu neuem Lebensglück schuf. Ihr neues Gottvertrauen – ihr Glaube – hat ihr später noch sehr oft in schwierigen Lebenslagen geholfen. Und mit ihm stärkte sich auch ihr Vertrauen in sich selbst und ihre Mitmenschen.
Lohnt es sich zu vertrauen?
Es ist nicht so, dass ich nicht selber immer wieder in Situationen gekommen bin, die mir das Vertrauen in meine Mitmenschen und die Umstände in meinem Leben genommen haben. Wie leicht geschieht es doch, dass wir enttäuscht werden! Unsicherheit und Misstrauen machen uns zum Spielball unserer Gefühle. Angst und Zweifel machen sich breit, wo eigentlich Vertrauen und Hoffnung herrschen sollten. Wir wissen nicht, was gerade mit uns geschieht und ob «man» es wirklich gut mit uns meint. Gerade das Jahr 2020 hat uns in vielerlei Weise das Vertrauen in ein sicheres Morgen genommen. Aber muss das so sein und bleiben?
Am Beispiel «Monika» konnte ich erkennen, dass man sich zum Vertrauen durchaus entschließen kann: Vertrauen ist zwar ein Gefühl, aber es gründet auf Erfahrungen und einer persönlichen Einstellung zu den Dingen des Lebens. Ich kann und darf mir die Perspektive wählen, aus der heraus ich mein Leben aufbaue. Ich kann und darf selbst entscheiden, WEM ich vertrauen möchte! Wenn ich auch die Umstände meines Lebens nicht gleich verbessern kann, so kann ich die Art und Weise, wie ich diese betrachte, durchaus ändern. Im Leben wieder zu vertrauen, vertrauensvoll nach vorne zu blicken und nicht aufzugeben, war noch immer lohnenswert! Selbst wenn in meinem Leben alles auseinanderzubrechen droht, darf ich trotzdem immer wieder aufstehen, allein durch die Tatsache, dass ich dem Vertrauen eine – vielleicht neue – Chance gebe.
Menschen, die vertrauen, sind glücklicher, gefestigter, oftmals auch gesünder und in Krisen belastbarer als andere. Ja, auch sie werden immer wieder Zeiten der Angst und der Sorge erleben, aber sie wissen: Die Angst ist zwar ein mächtiges Gefühl, aber Vertrauen ist noch viel stärker als die größte Angst. Ich kann zwar gegen sie ankämpfen, aber wahrscheinlich wird dies ein Kampf gegen Windmühlen werden. Wenn ich mich aber dazu entschließe, meinem Denken eine andere Richtung zu verleihen, mich vertrauensvoll in die Arme dessen zu werfen, der mich über alles liebt, werden mir diese Haltung und die daraus resultierenden Erfahrungen helfen, meine Ängste zu besiegen und stark zu sein.
Peter Rosegger, ein Schriftsteller aus meiner Heimat Österreich, schrieb einmal folgenden Satz: «Wer Vertrauen hat, erlebt jeden Tag Wunder.» Wir haben festgehalten, dass Vertrauen die schönste Form von Mut ist. Und Mut brauche ich, wenn ich etwas tue, was neu und vielleicht sehr ungewöhnlich ist. Diesbezüglich hat mich immer eine spezielle biblische Begebenheit fasziniert, in der die Israeliten durch den Jordan ziehen sollten, um nach Kanaan zu kommen. Solange sie vor den reißenden Fluten dieses Flusses standen, machte dieser keinerlei Anstalten, ihnen den Weg frei zu machen. Erst als sie mutig und vertrauensvoll ihre Füße ins Wasser setzten und hineinliefen, erst als sie nasse Füße hatten, blieb das Wasser des Jordans, das von oben herabfloss, stehen, wie ein großer Wall. Ganz Israel ging trockenen Fußes durch das Flussbett, bis alle sicher die andere Seite erreicht hatten. Wie immer man diese Geschichte betrachten mag, mir zeigt sie, dass Vertrauen zu Beginn immer etwas Mut braucht und ein DU, dem ich mein Vertrauen schenken kann. Den Sprung ins kalte Wasser muss ich trotzdem wagen! Aber wer nicht vertraut, hat eigentlich schon verloren! Soll etwas Echtes, etwas von Wert und Bestand entstehen, muss ich vertrauen können – besonders dann, wenn es um Beziehungen geht, um Freundschaft, Liebe oder Glauben. Hinzu kommt, dass Vertrauen auch Zeit und Ehrlichkeit benötigt, um wachsen und sich auf etwas verlassen zu können. Doch wenn Vertrauen da ist, ist das doch eines der schönsten Dinge in unserem Leben! Glück, Geborgenheit, Liebe und ein Sich-fallen-Lassen sind nur dort möglich, wo Vertrauen herrscht. Wer vertraut, kann träumen, sicher schlafen und ein ruhiges Herz bewahren, auch in Zeiten der Not. Vertrauen – Glaube – ist die beste Medizin in einer Welt, die sich wundgelaufen hat und an allen Ecken und Enden stöhnt.
Ob es sich lohnt zu vertrauen? Ich denke, ohne geht’s nicht!
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